"Winifred" - Kreuzeryacht

Text und Fotos: Kai Greiser



100 Jahre Winifred

Das Cabrio-Prinzip der weiten, aufgeräumten Decks, ehemals das Seeparkett hochmögender Herren, die darüber Wolken von Segeln an Gaffeln und Topsegelspieren setzten, für deren Handhabung mit langen Leinen und Taljen dieser Platz gebraucht wurde, übt selbst nach Generationen noch eine unerklärliche Faszination auf Yachtliebhaber aus. Als Charles Sibbick während der vorletzten Jahrhundertwende in Cowes die Doppelspanten einer Yawl aus gewachsener Eiche sägte, war er bestimmt davon überzeugt, dass ihn seine meisterlich gebauten Yachten einmal überleben werden. Dass aber die eine oder andere Yacht auch nach hundert Jahren noch geliebt und gepflegt wird wie ein Familienmitglied, war für ihn wohl so undenkbar, wie heute die Vorstellung, im Jahre 3001 würde eine liebevoll restaurierte "Play-Station" auf Wochenendtrips durch Pulks abgehobener Tragflächenyachten schippern. Der geniale Sibbick, der seine Yachten auch selber zeichnete, war in den Jahren um 1895 der innovativste Bootsbauer Englands. Er baute damals schon Rennyachten mit Jollenrümpfen, untergebolzten Flossenkielen mit Bleibomben am Ende und vorbalancierten, freistehenden Rudern. Unter anderem fertigte er für Prinz George, den späteren König George V., innerhalb von sieben Tagen und Nächten den über acht Meter langen Racer "White Rose"(ein Vorläufer der Sonderklasseyachten), der zwei Tage nach seinem Stapellauf die erste Regatta gewann. Damals unterschied man noch zwischen reinem Segelspaß in aufregenden Regatten am Nachmittag und dem Leben an Bord auf langen Seereisen. Neben den extrem leichten Rennyachten ohne Einrichtung entstanden in Sibbicks Werkstatt später auch stabile Kreuzeryachten mit traditionellem S-Spant und Langkiel mit angehängtem Ruder für angenehmes Seeverhalten. Denn von Sibbicks Ruhm unter Rennseglern erfuhren auch Eigner, die gerne schnell zur See segeln wollten. So auch Edmund Nordheim aus Hamburg, Mitglied diverser Segelclubs in Hamburg und England, der viel Geld im Pelzhandel mit Rußland verdiente und sich alle zwei Jahre ein neues Schiff bauen liess. Für ihn entstand die Yawl, die Sibbick 1900 auf Kiel legte. Zu dieser Zeit war Königin Victoria auch Kaiserin von Indien und bestes Burma-Teakholz für englische Bootsbauer wohlfeil. So bekam die 14,5 Meter lange Yawl "Winifred", diesen Namen liess Nordheim ihr in den Spiegel schnitzen, Teakholzplanken in 4,5 Zentimeter Stärke und ganzer Schiffslänge. Aus einem Stamm, der an die 16 Meter lang gewesen sein muss. Nordheim segelte sie, seinen Gewohnheiten entsprechend, nur zwei Jahre und verkaufte sie zurück nach England. Ihr neuer Eigner spachtelte ihren Namen zu und übermalte ihn mit "Nedda". Einige Jahre später wechselte sie erneut den Besitzer, hieß jetzt "Gloria" und wurde zu einem einmastigen Kutter mit Fock und Klüver umgetakelt. Sie wechselte noch mehrmals in England die Eigner und ihre Takelage zwischen Yawl und Kutter, bis sie wieder "Nedda" hieß, kuttergetakelt war und statt der langen, geschmiedeten Pinne über ein Schneckengetriebe am Koker mit einem kleinen Ruderrad gesteuert wurde.



Fast ein Jahrhundert nach ihrer Auslieferung in Cowes entdeckt sie Edmund Beck im Herbst ´94 im englischen Devon von einer Anhöhe auf dem Fowey River an einer Muringtonne. Das weite Deck und ihre klaren Linien erzeugen in ihm, selbst aus der Distanz, eine glückselige Gewissheit, die richtig weh tut. Sie ist das erste Objekt auf einer Sichtungsreise von klassischen Yachten, auf die ihn Holzbootmakler Peter Gregson auf Vermittlung des Hamburger Maklers Peter König mitnimmt. Noch bevor sie das Dingi erreichen, mit dem sie übersetzen wollen, ist sich Beck sicher: "Oh' Peter, that's my boat!" Die Antwort von Gregson: "You are crazy" ist aus kaufmännischer Sicht und seiner Kenntnis um die spartanische Einrichtung dieser Yacht, sicher nicht übertrieben. Für Beck aber, der acht Jahre lang einen Bornholmer Gaffelkutter wieder aufbaute, Kalfaten und Decksvergiessen mit Marineglue lernte, ist dieses Holzschiff die Verkörperung seiner Vorstellung, die über Jahre in ihm gewachsen ist. Mit Holz ist er groß geworden, sein Vater war Schreiner. So etwas prägt. Nach der Verkaufsabwicklung mit einem Gutachter, die abläuft wie eine Eheschließung in Gretna Green, segelt er seine frisch Angetraute "Nedda" ins dänische Egernsund an der Flensburger Förde. In Christians Baadebyggeri stellt er sie an Land unter ein Persenning und beginnt damit, das viel zu kleine Steuerrad zu demontieren. Auf dem Boden des Voreigners fand er nach dem Kauf die alte, geschmiedete Pinne und ein Skylight, das hinterm Niedergang kurz vor der Pinne an Deck gestanden haben soll. Der Ruderschaft hat einen Durchmesser von 12 Zentimeter. Er besteht aus massivem Teak und ist mit dem halben Ruderblatt aus einem Stück geschnitten. Im Ruderkoker findet Beck die einzige Leckstelle im Rumpf, wo Planken und Hecksteven stumpf zusammenlaufen. Der Koker hat so viel Spiel, dass er ein Nirorohr einziehen und mit heißem Pech vergießen kann. Dann montiert er die alte Pinne wieder.



Das grosse Cockpit davor mit einem Dieseltank darunter baut er aus, und schliesslich die gesamte Inneneinrichtung. Beck besorgt sich alte Pläne und Fotos von Beken of Cowes nach denen er das Deck vor der Pinne mit einer kleinen Cockpitwanne und dem alten Skylight rekonstruiert. Darunter baut er die Achterkammer mit einer Doppelkoje an Backbord und einer Seekoje an Steuerbord. Den gesamten Innenausbau tischlert er aus altem Holz nach Vorlagen aus der Jahrhundertwende neu und baut originale Teile, wie Türen und Schränke mit ein, die erhalten geblieben sind. Um die Authentizität zu wahren, schlitzt er sogar fehlende Schranktürrahmen falsch, indem er die liegenden Holme durchlaufen lässt, statt der senkrechten, weil das die Sibbick-Tischler früher genauso machten. Er findet nach langer Suche sogar einen Polsterstoff, der aus Victorias Zeiten stammen könnte. Beim Abziehen des Rumpfes entdeckt er am Heck unter dem aufgemalten Namen "Nedda" den alten, zugespachtelten Namen "Winifred", den sie von nun an behalten soll. Zwei intensive Jahre baut er an ihr". Die Seligkeit, die er dabei empfindet, scheint ihn auch für andere Liebreize empfänglich zu machen. Beck, inzwischen Geschäftsführer einer Gewürzfabrik in Kulmbach, für die er Kontakte zu Kunden in vielen Ländern der Welt pflegt, lernt in einer Flughafenlounge eine sympathische Frau kennen, die ihn so sehr interessiert, dass er sie nach einigen Treffen "zu Testzwecken" zum Segeln auf "Winifred" einlädt. Beim ersten Kreuzschlag im Haderslebenfjord bringt sie ihre Söhne Lennert(2) und Christopher(4) mit. Sie erkennt Tonnen voraus, bevor er sie wahrnimmt und bewegt sich an Bord mit schlafwandlerischer Sicherheit. Das Segeln hat sie in Eckernförde von ihrem Vater gelernt. Auch Ede Beck wird beobachtet, wie er mit Lennert im Arm nachts bei Vollmond über Deck wandert, weil der Kleine nicht einschlafen kann. Tests bestanden. Ein Jahr später, im September '98, heiraten Britta(36) und Ede(43) Beck an Bord von "Winifred". Mit der hochschwangeren Standesbeamtin Gabi Johannsen an Bord, kreuzen sie auf die Flensburger Aussenförde. Unter geblähten Segeln auf dem Skylight sitzend, lauschen sie der Ansprache der Standesbeamtin, die im engen Cockpit hockt, und tauschen die Ringe während ein Trauzeuge Kurs hält. Die schriftlichen Formalitäten erledigen sie am Salontisch. Und weil der Wind so schön weht, segeln sie zurück nach Flensburg und anschließend noch eine Runde mit der ganzen Hochzeitsgesellschaft auf dem weiträumigen Deck. Natürlich braucht die alte Dame Pflege und ab und zu die Hand eines erfahrenen Profis. Bootsbaumeister Jochen Duncker in Toft, der Christians Baadebyggeri kaufte, gab "Winifred" eine neue Heimat. Er hat ihren Holzmast restauriert und das Rigg vereinfacht, damit das Segel-Handling für den Skipper leichter ist. Kleine Tischler- und Malerarbeiten macht Beck selber. Dann fährt er 700 Kilometer, wie im Sommer fast an jedem Wochenende mit seiner Familie, auch mal über die Weihnachtsfeiertage aus dem meerlosen Oberfranken mit verstelltem Horizont, an die Ostsee zu "Winifred", um ihre Salondecke neu zu streichen. Das Schiff ist so sehr Mitglied der Familie, das Lennert und Christopher schon mal ein Schulfest sausen lassen, um auf "Winifred" mitzusegeln und ihre Winschen zu polieren. Bootsmann ist der Labradorhund "Skipper", der mit zwei Monaten an Bord kam, in jeder Wende mit nach Luv wechselt, friedfertig und sanft ist, aber jede Yacht die von achtern aufkommt anknurrt. Die Becks sehen das nicht so. Für sie ist "Winifred" eine windüberwehte Insel unter einem grossen Himmel mit schützendem Gehäuse unter Deck, auf die Ede nach seinen Weltreisen und Britta aus der oberfränkischen Enge fliehen. Lennert und Christopher werden Seebeine auf ihr wachsen. Einmal im Jahr wird es für die Grand Old Lady stressig. Dann bleiben Kinder und Hund an Land. Zur Crewverstärkung kommen Freunde an Bord, um beim Flensburger Klassiker Festival mit der alten Dame wie vor hundert Jahren zu regattieren. In ihrem 99. Jahr wurde sie vierte in ihrer Gruppe hinter drei jüngeren und längeren Kreuzeryachten.



"Nedda", schrieb der englische Makler Gregson in sein Angebot, "hat das letzte Jahrhundert in bemerkenswerter Kondition überlebt. Ich sehe keinen Grund, warum sie das nicht ein weiteres Jahrhundert tun sollte." Er konnte nicht wissen, das sie eigentlich immer noch "Winifred" hieß, 95 Jahre unter Spachtel und Farbe verborgen.


Technische Daten:
Länge mit Klüverbaum 16,50 m
Länge über Deck : 14,50 m
Breite : 3,30 m
Tiefgang : 2,30 m
Verdrängung : 17 t
Segelfläche am Wind : 125 qm
Dieselmotor 38 PS

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