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Wer MEER hat, braucht weniger...

"Ein schlichtes Boot aus Holz, zwei weiße Segel, eine kleine Kajüte. Was für ein wunderbares Heilmittel gegen eine Welt, die zu großen Teilen aus Hast, Geschrei und Überfluss besteht."

Den Zwängen von Land, Stadt und Zivilisation entfliehen und auf die Yacht umsiedeln? Marc Bielefeld hat es ausprobiert - heute sieht er das Leben aus ganz neuer Perspektive und schrieb darüber ein Buch für Segler, Meeresfreunde und all jene, die sich von neuen Kursen inspirieren lassen.
Journalist Marc Bielefeld hatte sich in Schottland eine Lion Class gekauft, 11m lang, gebaut 1964. Segelte mit ihr ums Mull of Kintyre nach Nordirland, zu den Hebriden, durch den Kaledonischen Kanal, über die Nordsee in den Limfjord bis zur hiesigen Ostseeküste.
Was geschieht, wenn man auf seinem Boot lebt? MB: "Das Erste, was ich lernte, war: mit wie wenig ich auskam". Und diese Reduktion ging auf vieles andere über, wundersam, rätselhaft, Prioritäten und Perspektiven verschieben sich.
"Die sich langsam addierende Zeit auf dem Boot aber offenbarte noch mehr. Wie herrlich es ist, einmal länger in unbekannten Häfen zu liegen, ohne gleich weiter zu müssen. Stattdessen richtig ankommen zu dürfen. Die Menschen dort kennenzulernen." Auch davon handelt sein Buch, von Menschen in Schottland, in Dänemark.

Marc Bielefelds Rückzug aufs Boot war übrigens kein einmaliges Ereignis des Jahres 2012. "Saß, hockte, kroch mal wieder tage-, wochenlang unterm Boot diesen fiesen Winter. Aber nun ist es parat und schwimmt": Er wird sich im Mai auf seiner Yacht in Richtung Norden verholen...


Wir veröffentlichen einen kleinen Auszug aus den 272 Seiten umfassenden Buch, der sich mit dem Frühling, den Monaten März/April beschäftigt, wenn es in "dieser Phase des langsam sterbenden Winters nichts Wichtigeres und Dringenderes zu tun, als das eigene Boot wasserfertig zu machen":

In unseren nordischen Breiten wurden die Segler meistens so um den März herum nervös. Bei einigen ging es schon im Januar, Februar los, aber der März war mit Abstand der schlimmste Monat. Die ersten schlichen sich nun früher aus den Büros, gingen mittags nicht mehr zum Italiener, sondern verschwanden heimlich für ein, zwei Stunden in den Bootsläden. Dort standen sie konzentriert vor den Regalen, suchten Schäkel, befühlten Wantenspanner und Messingschrauben, musterten Lacktöpfe, Pinsel und diverse, teils mit Pigmenten und Kristallen versetzte Anstrichmittel. Viele führten mit den Ladenbesitzern lange Gespräche, geradezu aberwitzige Fachsimpeleien, über die Körnung von Schleifpapier, über die Effizienz von Schwanenhalsklingen und Zieheisen sowie über die Neigungswinkel und Anpressstärken, mit denen diese sonderbaren Instrumente per Hand über Lack und Holz zu führen waren. Das Ziel des Bestrebens würde bald ausnahmslos darin liegen, die besten aller denkbaren Ergebnisse zu erzielen. Perfekte Lackkleider, makellose Oberflächen, glatte und gesunde Unterwasserschiffe.

Manchmal diskutierten die Yachteigner so lange und vehement mit den Experten hinterm Tresen, dass man stundenlang vor der Kasse zu warten hatte, um eine schlichte Rolle Takelgarn zu erwerben oder den neuen Tidenkalender für die heraufziehende Saison zu ergattern. Es ging um Diverses, in der Regel um Lebensentscheidendes. Um Polituren, Pumpen, Schläuche, Ventile, Schlauchschellen; um die Marken von Schleifmaschinen. Es ging häufig um Holz, um dessen feine Fasern und Maserungen, Teak, Mahagoni, Eiche, Fichte. Es ging aber auch ordentlich um Metalle und ihre Eigenschaften, nichtrostenden Stahl, Messing und natürlich Bronze, das wohl älteste, erhabenste und wirksamste aller Metalle, die dem verfluchten Salzwasser die Stirn bieten. Die ganze Welt drehte sich spätestens im März auf einmal um Segel, Schoten, Schrauben, Nägel, Nieten, Wasserfilter, Wassersammler, Schwungscheiben und weiß der Henker was noch.
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Niemand wusste, wie jäh Eis und Schnee sich in einem ersten zarten Sonnenschein auflösen würden und wie schnell man aufs Wasser würde zurückkehren können. Ostern galt als Schallgrenze, als Zeitenwende. Zu Ostern sprossen oft schon die ersten Blumen und Glöckchen, es brach die schönste aller Jahreszeiten an, der Frühling, der saubere, nach Leben und Anfang duftende Frühling, und bei Gott, es war nun schon März, und es blieb nur noch wenig Zeit, um in die Puschen zu kommen und die Pinsel zu schwingen. Man verschob Termine. Ich kannte Segler, die stornierten Meetings. Die sagten eiskalt ab. Die erschienen einfach nicht. Die rannten stattdessen mit kuriosen Listen in Händen und Hosentaschen durch die Gegend, und auf diesen Listen standen Dinge und Vermerke, die sonst niemand, absolut niemand verstand.

Die Segler hatten es hier auf ihre Weise mit einer umgekehrten Pyramide zu tun, einer sich nach oben öffnenden und ständig verbreiternden Welt, die sie vor immer neue Herausforderungen stellte. Auch hier gab es niemals ein Ende, gab es immer zu tun, zu lernen. So waren auf den Listen der seegehenden Seelen Gradzahlen, Winkelangaben und Schraubenlängen sowie diverse Durchmesser in Form von Vermerken und Zeichnungen notiert. Hinzu kamen, in Notizbücher und neben Verträge gekritzelt, Skizzen und Vermessungen von Kompanten, Loggen, Tampen, Schoten, Wanten, Stagen, Schläuchen. Schrauben, viele, viele Schrauben. Linsenkopf, Senkkopf, Schlitz und Kreuz. Auch durfte das Isolierband nicht fehlen, Karosserieband, Bärenpupe, ach, es gab viele Namen.

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An den nahen Küsten und abseits der Ballungsräume gab es viele Hallen. Große und saubere, warme und kalte, schiefe und krumme. In all diesen Hallen und teils auch unter freiem Himmel hatten die Schiffe den Winterschlaf überstanden. Boote,
Kutter, Jollen, Yachten. Die Stätten der Bootslagerungen füllten sich nun langsam wieder mit Menschen. Vor allem Männer erschienen, fuhren mit ihren Autos vor, stiegen in ihre Blaumänner und hievten Werkzeugkästen aus den Kofferräumen. Sie bauten ihr Material auf, platzierten Lackdosen, Verdünner mit verschiedenen Nummern drauf, sie kramten Marmeladengläser hervor, in denen die Pinsel landeten und demnächst ausgewaschen werden mussten; sie schraubten Werktische zusammen und hefteten bald runde, mit Klett versehene Schleifpapierkreise auf die Teller der Rotex-Maschinen. Schon kurz darauf röchelten die Absaugpumpen, und die Männer krümmten und bogen sich, Staubmasken tragend, unter die Rümpfe, sie begannen mit dem heiligen Akt des Schleifens, und sie alle träumten vom Meer. Das Wunder vollzog sich derweil im Inneren. Nichts von ihm war auf den ersten Blick zu erkennen. Die auf dem Kopf stehende Pyramide thronte groß, wortlos und unsichtbar über einem. Ein Himmel für sich, der sich zu allen Seiten hin ausbreitete und öffnete. Gewisse Spuren dieses umgekehrten pyramidischen Treibens jedoch waren für jedermann zu sehen. Hände und Nasen voller Lackkrusten, Fingernägel, die sich zu dreckigen Halbmonden mauserten. Daumen, an denen die Reste von Epoxidharz klebten. Ich selbst hatte einmal vergessen, eine Duschhaube aufzusetzen, während ich rücklings krabbelnd die Decke in meinem Vorschiff weiß pönte, daraufhin trug ich eine Woche lang komplett weiß gesprenkelte Haare auf dem Haupt, weil es nicht ratsam war, diese mit dem aggressiven Verdünner auszuwaschen (Shampoo war sinnlos). Und so blieben zweitausend Sprenkel und Tupfer weißen Bootslacks einfach in meinen Haaren kleben, und ich scherte mich einen Teufel drum. Es ließe sich vielleicht von einem Hobby reden, doch das träfe den Nagel nicht exakt auf den Kopf. Denn hier ging es um etwas, das doch deutlich weiter ausuferte. Im Gegensatz zu einigen anderen Hobbys nämlich – Autos, Briefmarken, Kunst, Flugzeugmodelle, Lenkdrachen, Golf, Surfen oder Bergsteigen, um nur einige Beispiele zu nennen – ließ man sich bei den Booten auf eine furchterregende Angelegenheit ein. Es nahm kein Ende. Sisyphos war am Walten.

Die Boote erhoben sich wie Riesen, solange sie noch an Land standen. Sie zeigten ihren Rumpf, das gesamte bauchige Unterwasserschiff, die beiden Steven bis runter zum Kiel und ganz unten den Ballast aus tonnenschwerem Eisen oder Blei. Man musste in den Winterlagern auf Leitern steigen, um überhaupt auf die Boote raufzukommen. Bevor überhaupt daran zu denken war, das Boot auch nur in die Nähe zurück zum Wasser zu bringen, musste man diese Leitern womöglich zweihundert-, dreihundertmal hinauf- und wieder hinabsteigen. Die Leitern wackelten. Immer drohte man abzustürzen, besonders, wenn man mit vollen Lackeimern, Lackrollen, Bohrern, Besen oder sonstigem Gerät darauf herumbalancieren musste.

Boote sind keine Häuser, keine Wohnungen. Sie sind nicht viereckig und leicht vermessbar. Sie sind unberechenbare Geschöpfe, weil Meer und Wellen das Rechteckige und Klobige nun einmal verachten; auf plumpen Kästen kommt eben niemand elegant und ohne Rauchfahne übers Meer. Die ausgebufften Designer von Segelbooten hatten folglich wunderschöne Formen ersonnen, rund, schnittig, schmal, mehr oder weniger filigran, immer jedoch so geformt, dass der Riss, der Bug, die Linien, dass das Boot wie ein geschmeidiger Freund der Wellen aussah. Und eben darin lag die Krux, ein großes Leiden. Es gab demnach Rundungen, Spanten, Planken; enge und schmal zulaufende Ecken, Kuhlen, Hohlräume. Boote, besonders die alten Holzboote, waren vor allem aus hydrodynamischen und statischen Gründen von innen oft nichts anderes als dunkle, verwunschene Labyrinthe. Da musste man hineinkriechen, sich hineinwinden, krümmen und stopfen. Einmal lag ich langgestreckt im schmalen Heck meines Boots, um ein Kabel zu verfolgen. Ich war eingeklemmt. Ich kam nicht mehr raus. Der Bootsbauer, ein Portugiese, musste kommen. Er musste die Leiter hoch und mich hinauszerren. Um die Schiffe wieder salzwasserklar zu bekommen, musste man sich auf viele Weisen abrackern. Bei manchen Booten wie dem geklinkerten Folkeboot stießen die vielen, fast acht Meter langen Planken des Rumpfs nicht stumpf aufeinander, sondern überlappten sich alle etwas – so hatte man jedes Frühjahr allein gut hundert Meter kleine, bis zu einen Zentimeter breite Kanten zu schleifen. Die alten Boote waren aus Holz, und dieses Holz war gnadenlos, es verlangte Schliff, Hingabe und den jährlichen Schutz aus Lack, sonst würde es irgendwann vergammeln. Weil es keine andere Möglichkeit gab, schliff ich diesen Kanten per Hand, das Schleifpapier in kleinen Streifen um den Daumen gelegt. Ich wechselte die Daumen ab, nahm mal den Linken, mal den Rechten. Noch bevor das Boot jedes Frühjahr aus der Halle gezogen wurde, waren die Kuppen meiner Daumen bis auf zartes Rosa hinuntergeschliffen, und jeder Kripobeamte wäre leer ausgegangen, denn von den feinen Rillen meines Fingerabdrucks war nur noch rohes Fleisch übrig.

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Doch es wartete das Meer. Die Aussicht, eigenhändig und unabhängig über größeres Wasser zu reisen, es warteten die Sommer, lange Sommer, die Wolken und vor allem die Möglichkeit, der rasenden Welt auf diese Weise für einige Tage, Wochen oder Monate zu entschlüpfen. Dafür taten sie es alle. Und dafür taten sie fast alles.

Das war ein weiterer Wesenszug der Segelei, ja der ganzen Sache mit den Booten. Man segelte nicht nur in den Sommern. In den Wintern segelte man im Kopf weiter. Plante, sinnierte, träumte. Studierte Seekarten, erkor neue Ziele. Oder man schliff sich in irgendeiner Halle die Finger blutig.


Marc Bielefeld: "Wer das MEER hat, braucht weniger"

Erhältlich in jeder anständigen Buchhandlung und im Shop auf www.fky.org: shop/schmoekern-fky.htm



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